Bundesgericht präzisiert Kapitaleinlageprinzip bei der Verrechnungssteuer
Bundesgerichtsurteil präzisiert: Für die steuerfreie Rückzahlung von Kapitaleinlagereserven sind der handelsrechtskonforme Ausweis sowie die korrekte Verbuchung und Meldung an die ESTV zum Zeitpunkt der Rückzahlung entscheidend.
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Kurzfassung des Beitrages
Das Bundesgericht hat präzisiert, unter welchen Bedingungen Vermächtnisse als Kapitaleinlagen gelten und steuerfrei zurückgezahlt werden können. Es bestätigt den konstitutiven Charakter des Ausweises auf einem gesonderten Konto und der Meldung an die ESTV. Nachträgliche Umbuchungen sind zulässig, solange sie handelsrechtskonform erfolgen. Ohne rechtzeitige Meldung bleibt eine Ausschüttung jedoch verrechnungssteuerpflichtig.
Kontext
Das Urteil des Bundesgerichts 9C_690/2023 vom 21. März 2025 befasst sich mit einem zentralen Aspekt des schweizerischen Verrechnungssteuerrechts, der steuerfreien Rückzahlung von Kapitaleinlagen gemäss Art. 5 Abs. 1bis VStG (sog. KER). Im Fokus des Entscheids steht dabei die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Vermächtnis an eine Aktiengesellschaft als Kapitaleinlage gilt und wie dieses handelsrechtlich korrekt zu verbuchen ist, um eine verrechnungssteuerfreie Ausschüttung zu ermöglichen. Dabei werden zentrale Fragen zu den Anforderungen an die Verbuchung und Meldung von KER geklärt.
Darstellung des Sachverhalts
Die A. AG mit Sitz in Zürich erhielt am 9. November 2012 Liegenschaften im Wert von rund CHF 51.5 Mio. als Vermächtnis von ihrer verstorbenen Aktionärin. Nach Abzug von Hypotheken verbuchte die Gesellschaft in der Jahresrechnung CHF 50 Mio. als ausserordentlichen Ertrag und bildete zudem Rückstellungen für Erbschaftssteuern aufgrund des Vermächtnisses. Der handelsrechtliche Jahresgewinn belief sich auf rund CHF 32 Mio.
In den Bilanzen der Jahre 2013, 2014 und 2015 wies die A. AG die rund CHF 32 Mio. in den allgemeinen Reserven bzw. gesetzlichen Gewinnreserven aus. In der Bilanz per 31. Dezember 2016 wurde der Betrag von CHF 50 Mio. dann erstmals in die «Reserve aus Kapitaleinlagen» (KER) umgebucht.
Am 21. April 2017 beschloss die Generalversammlung der A. AG, eine Dividende von CHF 1.08 Mio. (für das Geschäftsjahr 2016) aus den KER zu entrichten. Darauf wurde vorsorglich die Verrechnungssteuer mit dem Hinweis entrichtet, dass die betreffenden KER noch nicht mittels Formular 170 gemeldet und damit noch nicht von der ESTV vorgängig bewilligt worden seien. Da die A. AG der Ansicht war, dass eigentlich keine Verrechnungssteuer geschuldet wäre, weil es sich gemäss ihrer Ansicht um KER handelte, behielt sie sich die Rückforderung der Verrechnungssteuer nach Bewilligung der KER durch die ESTV vor. Per Ende 2017 wies die A. AG KER in Höhe von rund CHF 31 Mio. aus (rund 50 Mio. abzüglich rund CHF 18 Mio. Erbschaftssteuern und rund CHF 1 Mio. Ausschüttungen).
Die ESTV lehnte 2018 die Anerkennung der KER in voller Höhe ab. Zudem bestätigte sie die Pflicht zur Ablieferung der Verrechnungssteuer von 35 Prozent betreffend die Ausschüttung im Jahre 2017.
Das Bundesgericht hatte zu beurteilen, ob die ESTV zu Recht festgestellt hat, dass die A. AG per 31.12.2017 über keine KER verfügte, die sie verrechnungssteuerfrei hätte ausschütten können, und zweitens, ob auf der Ausschüttung im Jahr 2017 die Verrechnungssteuer geschuldet war.
Erwägungen des Bundesgerichts
In einem ersten Schritt bestätigt das Bundesgericht die Auffassung der Vorinstanz, wonach der Gesetzeswortlaut von Art. 5 Abs. 1bis VStG verlangt, dass KER in der Handelsbilanz auf einem gesonderten Konto ausgewiesen werden müssen. Dieses Verbuchungserfordernis hat konstitutiven Charakter für die Steuerfreiheit der Rückzahlung und stellt keine blosse Ordnungsvorschrift dar.
Zudem anerkennt das Bundesgericht, dass es sich beim Vermächtnis der verstorbenen Aktionärin an die A. AG grundsätzlich um eine Kapitaleinlage i.S.v. Art. 5 Abs. 1bis VStG handeln kann. Entscheidend ist, dass das Eigenkapital der Gesellschaft durch das Vermächtnis effektiv gemehrt wurde. Ein Vermächtnis führt zwar zunächst zu einer Forderung gegen die Erben, doch kann diese Forderung bereits aktiviert werden, sobald ein zukünftiger Mittelzufluss bzw. wirtschaftlicher Nutzen als sehr wahrscheinlich erscheint, was bei Vermächtnissen oft schon im Moment des Erwerbs der Forderung auf Herausgabe gegen die beschwerten Erben und nicht erst beim Vollzug des Vermächtnisses erfüllt ist.
Für die Bemessung der KER stellt das Bundesgericht auf den (Netto-)Zufluss ab. Vom Verkehrswert der Liegenschaften (rund CHF 51.5 Mio.) sind sowohl die übernommenen Hypothekarschulden (CHF 1.5 Mio.) als auch die entrichtete Erbschaftssteuer (rund CHF 18 Mio.) in Abzug zu bringen, woraus sich eine anrechenbare Kapitaleinlage von rund CHF 32 Mio. ergibt. Auf dem Nettozufluss fiel eine Emissionsabgabe von 1 Prozent an. Nach der Praxis der ESTV wurde diese bei der Ermittlung der KER nicht abgezogen.
Im Weiteren prüft das Bundesgericht die handelsrechtskonforme Verbuchung der Kapitaleinlage. Die ursprünglich erfolgswirksame Verbuchung des Vermächtnisses im Geschäftsjahr 2012 war nach damaliger Rechtslage zulässig. Unter dem neuen Rechnungslegungsrecht ist es hingegen sachgerecht, die empfangene Kapitaleinlage unter den gesetzlichen Kapitalreserven auszuweisen. Die Umbuchung auf das gesonderte Konto war handelsrechtlich zulässig. Der in der Handelsbilanz 2017 ausgewiesene (und gegenüber dem Vorjahr nach unten korrigierte) Betrag an KER ist daher nicht zu beanstanden.
Hinsichtlich des Zeitpunkts der Verbuchung hält das Bundesgericht fest, dass kein überzeugender Grund besteht, eine verrechnungssteuerfreie Ausschüttung gem. Art. 5 Abs. 1bis VStG von offenen Kapitaleinlagen allein deshalb auszuschliessen, weil sie nicht unmittelbar oder zeitnah gesondert verbucht wurde. Eine derart formalistische Auslegung wäre überspitzt und findet auch in den Kreisschreiben der ESTV keine tragfähige Stütze. Die Verbuchung der Kapitaleinlage auf einem gesonderten Konto im Moment der Rückzahlung genügt.
Gleiches gilt für die Meldung an die ESTV. Auch diese ist nach Ansicht des Bundesgerichts an keine Frist gebunden. Dem Zweck der Meldepflicht ist bei offenen Kapitaleinlagereserven bereits Genüge getan, wenn die Gesellschaft der ESTV im Zeitpunkt der Fälligkeit der Rückzahlung sämtliche Veränderungen auf dem gesonderten Konto gemeldet hat.
Zusammenfassend stellt das Bundesgericht fest, dass die A. AG per 31. Dezember 2017 über KER in der Höhe von rund CHF 31 Mio. verfügte. Dennoch sei die im selben Jahr erfolgte Ausschüttung verrechnungssteuerpflichtig gewesen, da die entsprechende Meldung an die ESTV zum Zeitpunkt der Fälligkeit noch nicht erfolgt war.
Auswirkungen des Bundesgerichtsurteils für die Steuerpraxis
Mit diesem Entscheid schafft das Bundesgericht wichtige Klarheit zur Anwendung von Art. 5 Abs. 1bis VStG. Für die Praxis besonders bedeutsam ist die Feststellung des Bundesgerichts, dass das Verbuchungserfordernis im Verrechnungssteuerrecht – im Gegensatz zum Einkommenssteuerrecht – konstitutiven Charakter hat. Nur Kapitaleinlagen, die handelsrechtskonform auf einem gesonderten Konto ausgewiesen werden, können steuerfrei zurückgezahlt werden.
Weiter stellt das Bundesgericht fest, dass es genügt, wenn die KER im Zeitpunkt der Ausschüttung dem entsprechenden Konto in der Handelsbilanz entnommen werden können. Das Verbuchungserfordernis muss somit nicht zeitgleich mit der Kapitaleinlage erfolgen. Entgegen der bisherigen Praxis der ESTV ist eine nachträgliche Umbuchung zulässig, solange sie handels- und rechnungslegungskonform ist. Diese praxisnahe Auslegung verdient Zustimmung, da sie formellen Anforderungen zwar Gewicht beimisst, sie jedoch nicht überspitzt formalistisch interpretiert.
Gleichzeitig stellt das Bundesgericht klar, dass auch die Meldung an die ESTV ein konstitutives Tatbestandsmerkmal für die Steuerfreiheit gemäss Art. 5 Abs. 1bis VStG darstellt. Eine Ausschüttung kann nur dann ohne Verrechnungssteuer erfolgen, wenn die entsprechenden KER bis zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Leistung gemeldet wurden. Zwar besteht keine feste Frist für die Meldung des Bestands, doch eine nachträgliche Mitteilung vermag eine bereits entstandene Steuerforderung nicht mehr zu beseitigen.
Insgesamt bringt der Entscheid mehr Klarheit und Kohärenz in die Anwendung des Kapitaleinlageprinzips. Gleichzeitig verdeutlicht er, dass formelle Voraussetzungen weiterhin mit Sorgfalt zu erfüllen sind, jedoch ohne dabei einem überspitzten Formalismus zu verfallen, der dem eigentlichen Zweck der Regelung widersprechen würde.