Altreservenpraxis

Gewinnausschüttungen einer schweizerischen Kapitalgesellschaft unterliegen der schweizerischen Verrechnungssteuer von 35%. Im innerstaatlichen Verhältnis erfüllt die Verrechnungssteuer eine Sicherungsfunktion und kann – soweit die dafür gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind – zurückerstattet bzw. gemeldet werden.

Im internationalen Verhältnis hat die Verrechnungssteuer hingegen einen Fiskalzweck und kann daher nur zurückerstattet bzw. gemeldet werden, soweit ein Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) der Schweiz eine Entlastung hierfür vorsieht.

Für die Gewährung einer solchen Entlastung auf Gewinnausschüttungen einer schweizerischen Kapitalgesellschaft müssen neben den allgemeinen Anspruchs- und Substanzvoraussetzungen im Sinne der einschlägigen Bestimmungen in den schweizerischen DBA (vgl. unser Blogbeitrag vom 3. März 2022), insb. Abkommensmissbrauch nach der Altreservenpraxis, internationale Transponierung oder stellvertretenden Liquidation ausgeschlossen werden können.

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I. Sockelbelastungen gemäss schweizerischen DBA

Das Besteuerungsrecht der Schweiz als Quellenstaat wird in sämtlichen schweizerischen DBA numerisch beschränkt. Gemäss den meisten DBA der Schweiz wird das Besteuerungsrecht des Quellenstaates auf Dividenden aus Portfoliobeteiligungen auf 15 Prozent des Bruttobetrags beschränkt.

Für konzerninterne Dividenden schränken eine Vielzahl der schweizerischen DBA das Recht der Schweiz, als Quellenstaat eine finale Verrechnungssteuer zu erheben, zusätzlich ein. Die meisten DBA der Schweiz verlangen für eine Reduktion der Sockelbelastung bei konzerninternen Dividenden eine Beteiligungsquote zwischen 10 bis 25 Prozent. Einige DBA schreiben zudem eine Mindesthaltedauer der Beteiligung vor.

Gemäss den DBA der Schweiz mit Australien, Ägypten, Albanien, Algerien, Armenien, Aserbaidschan, Äthiopien, Bahrain, Belarus, China, Ghana, Griechenland, Israel, Kanada, Kasachstan, Katar, Kirgistan, Südkorea, Kosovo, Kroatien, Litauen, Malaysia, Mazedonien, Moldova, Mongolei, Montenegro, Oman, Russland, Sambia, Saudi-Arabien, Serbien, Singapur, Südafrika, Tadschikistan, Türkei, Turkmenistan, Ukraine, Uruguay, Usbekistan, USA und den Vereinigten Arabischen Emiraten wird das Besteuerungsrecht des Quellenstaats bei konzerninternen Dividenden auf 5 Prozent reduziert.

Einen höheren residualen Satz von 10 Prozent sehen die DBA der Schweiz mit Argentinien, Bangladesch, Brasilien, Indonesien, Jamaika, Pakistan, Peru, Philippinen, Sri Lanka, Taiwan, Thailand, Trinidad und Tobago, Tunesien und Vietnam vor.

Den sog. Nullsatz (0 Prozent) bei konzerninternen Beteiligungen kennen die DBA der Schweiz mit Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Hongkong, Irland, Island, Japan, Kolumbien, Lettland, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn, Venezuela, Vereinigtes Königreich, Zypern.

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II. Altreservenpraxis

a. Tatbestand

Wird die Rückerstattungsposition (d.h. der Umfang der verbleibenden Sockelsteuer) auf Gewinnausschüttungen einer schweizerischen Kapitalgesellschaft mittels Umstrukturierung oder Verkauf der Beteiligung verbessert, muss im internationalen Verhältnis stets die sog. Altreservenpraxis beachtet werden.

Gemäss Bundesgericht und ständiger Praxis der ESTV wird diese gestützt auf den ungeschriebenen Missbrauchsvorbehalt angewendet, wenn durch eine Umstrukturierung oder einen Drittverkauf die residuale Verrechnungssteuerbelastung auf im Zeitpunkt der Umstrukturierung bereits bestehenden ausschüttbaren, nichtbetriebsnotwendigen Mitteln verringert wird, ohne dass die Umstrukturierung durch ausreichende wirtschaftliche Motive gerechtfertigt werden kann. Die Anwendbarkeit der Altreservenpraxis bei einem Drittverkauf wurde dabei erst kürzlich vom Bundesgericht bestätigt (siehe Urteil des Bundesgerichts vom 29. Juli 2021 (2C_80/2021)).

b. Beispiel

In der Praxis können die Konstellationen, wo die Altreservenpraxis zur Anwendung kommt, mannigfaltig und nicht immer leicht durchschaubar sein. Eine vereinfachte Standard-Situation, wo die Altreservenpraxis zur Anwendung kommen kann, lässt sich jedoch allgemein wie folgt zusammenfassen:

Eine schweizerische Kapitalgesellschaft wird direkt zu 100% von einer US-amerikanischen Gruppengesellschaft gehalten. Im Rahmen einer konzerninternen Reorganisation der weltweiten Beteiligungsstrukturen wird die schweizerische Beteiligung auf eine niederländische Konzerngesellschaft übertragen. Die Übertragung der Beteiligung ist primär steuerlich motiviert. Da die Sockelbelastung gemäss DBA der Schweiz mit den USA im Konzernverhältnis 5% beträgt, gegenüber den Niederlanden jedoch der sog. Nullsatz zur Anwendung kommt, muss die Altreservenpraxis beachtet werden.

c. Rechtsfolgen

Die Altreservenpraxis führt dazu, dass die Rückerstattung der schweizerischen Verrechnungssteuer an die neue Anteilsinhaberin der schweizerischen Kapitalgesellschaft im Zeitpunkt späterer Ausschüttungen in dem Umfang verweigert wird, als dass sogenannte Altreserven vorliegen.

Die Erwerberin wird mit Bezug auf die Rückerstattung der Verrechnungssteuer auf den im Zeitpunkt des Erwerbs bereits vorhandenen Altreserven also so behandelt, als wenn sie sich in der Rückerstattungsposition der vormaligen Anteilsinhaberin befinden würde. Im vorangehenden Beispiel müssten auf Ausschüttungen an die Dutch Co aus sog. Altreserven der SwissCo weiterhin eine nicht-rückerstattbare Verrechnungssteuer von 5% in Einklang mit der Rückerstattungsposition der US Co erhoben werden. Die weiteren 30% Verrechnungssteuern können mittels internationalem Meldeverfahren mittels Formular 108 gemeldet werden, soweit vorgängig die Anspruchsberechtigung der Dutch Co mittels Formular 823B beantragt wurde.

d. Ermittlung der Altreserven

Zentral für die Altreservenpraxis ist die Tatsache, dass im Zeitpunkt der Übertragung in der schweizerischen Gesellschaft Reserven vorhanden waren, welche die Gesellschaft aus freien Mitteln hätte ausschütten können.

Altreserven sind gemäss Praxis der ESTV die im Zeitpunkt der Übertragung vorhandenen und ausschüttungsfähigen nichtbetriebsnotwendigen Mittel. Nicht betriebsnotwendige Mittel sind somit nur in dem Umfang potenzielle «Altreserven», als diese handelsrechtlich ausschüttungsfähig sind.

i. Passivtest

Ausschüttungsfähig ist das handelsrechtlich ausgewiesene Eigenkapital einer Gesellschaft, abzüglich des Grundkapitals der Gesellschaft (Aktienkapital bzw. Stammkapital) sowie der gesetzlichen Reserven. Für eine Holdinggesellschaft gelten unabhängig von der tatsächlichen Höhe der gesetzlichen Reserven 20% des Grundkapitals als nicht ausschüttungsfähig. Bei allen anderen Gesellschaften beläuft sich dieser Betrag auf 50%. Sind darüber hinaus noch Kapitaleinlagereserven (sog. «KER») vorhanden, verringern diese die für die Bestimmung der Altreserven massgebenden «ausschüttungsfähigen Reserven» zusätzlich.

ii. Aktivtest

Nichtbetriebsnotwendig für die Zwecke des Aktivtests sind jene Mittel, welche zur Erfüllung des betrieblichen Zwecks der Gesellschaft nicht benötigt werden. Bei der Beurteilung, inwiefern liquide Mittel als «nicht betriebsnotwendig» anzusehen sind, muss auch der Liquiditätsbedarf der jeweiligen Unternehmung berücksichtigt werden. Liquide Mittel (z.B. Bankkonti etc.) sind nicht per se «nicht betriebsnotwendig». Massgebend für die Beurteilung des Aktivtests ist der Zeitpunkt der Übertragung der Anteile.

e. Rechtfertigung durch ausreichende wirtschaftliche Motive

Zur Vermeidung der Anwendung der Altreservenpraxis kann der Nachweis erbracht werden, dass eine Übertragung aufgrund wirtschaftlicher Gründe erfolgt und daher im Hinblick auf die Verrechnungssteuer nicht missbräuchlich ist (Exkulpation). Das missbräuchliche Element im Rahmen der Altreservenpraxis liegt dabei nicht einfach in der Verbesserung der Rückerstattungsposition, sondern in der Kombination von (vergangener) Ausschüttungspolitik (d.h. hohe Thesaurierung) und Übertragung zur Verbesserung der Rückerstattungsposition. Erfahrungsgemäss ist es jedoch schwierig, diesen Exkulpationsbeweis gegenüber der ESTV überzeugend zu erbringen.

III. Fazit

Ist ein aktueller Anteilsinhaber nicht oder nur teilweise zur Rückerstattung der schweizerischen Verrechnungssteuer berechtigt, kann durch eine konzerninterne Umstrukturierung oder durch ein Drittverkauf die residuale Verrechnungssteuer verringert werden. Erweist sich dies als missbräuchlich, kann die ESTV – abgestützt auf die höchstrichterliche Rechtsprechung - dem neuen Dividendenempfänger unter Verweis auf die Altreservenpraxis die Rückerstattung der schweizerischen Verrechnungssteuer ganz oder teilweise verweigern. Insofern ist es wichtig, dass Vorgänge, welche zu einer Verbesserung der Rückerstattungsberechtigung führen können, stets genau analysiert werden und vorgängig mit der ESTV besprochen werden. Insb. hinsichtlich des Umfangs der Altreserven besteht regelmässig ein erheblicher Ermessens- und damit auch Argumentationsspielraum.